Nach wie vor gelten Learning Analytics als verheißungsvolle Zukunftstechnologie im Bildungsbereich. Die automatisierte Analyse von Lernergebnissen habe sowohl das Potenzial, Durchfallquoten massiv zu minimieren als auch die Lehre zu verbessern. Doch was ist dran am Hype? Ein Diskussionsbeitrag.
Trotz massiven Fortschritten in der digitalen Lehre bedingt durch mittlerweile zwei vollständige Corona-Semester mit weitestgehender Distanzlehre stehen wir bei vielen Bildungstechnologien in Deutschland noch am Anfang – ein Beispiel dafür ist Learning Analytics. Das allein muss nicht schlecht sein. Nein, es ist sogar geboten, Chancen und Risiken neuer Technologien vor ihrem flächendeckenden Einsatz ausreichend zu prüfen und zu diskutieren. Ganz analog verhält es sich schließlich etwa auch bei der Zulassung von Impfstoffen oder Medikamenten zur Therapie neuer Krankheiten.
Bevor wir auf die Chancen und Risiken von Learning Analytics zu sprechen kommen, eine kurze Einführung: Mit dem Begriff Learning Analytics werden in der Regel Technologien bezeichnet, welche mithilfe von Algorithmen die Lerndaten von Teilnehmern an digitalen Kursen automatisiert auswerten. Diese Auswertung erlaubt im Idealfall Rückschlüsse auf den Lernfortschritt und die Lerndefizite der Kursteilnehmer. Voraussetzung ist, dass zumindest ein Großteil des Lernprozesses digital abgebildet ist, da automatisiert nur digitale Metadaten, die bei der Verwendung digitaler Lernplattformen anfallen, vorliegen können. Deshalb eignen sich reine Onlinekurse mit einer Vielzahl digitaler Inhalte besonders gut für den Einsatz von Learning Analytics.
Lassen wir das Thema Datenschutz zunächst einmal außen vor. Die gesammelten und algorithmisch analysierten Daten lassen sich nun grob gesagt für zwei Szenarien gebrauchen:
1. Die Analyse des Lernstands einzelner Kursteilnehmer mit dem Zweck einer konkreten Rückmeldung nach dem Prinzip: „Du hast im Bereich A noch Lücken, Bereich B ist vollständig bearbeitet, der Bereich ist noch komplett offen – Deine statistische Wahrscheinlichkeit, die Prüfung zu bestehen, liegt bei x Prozent.“
2. Die Rückmeldung an den Dozenten, welcher Student an welcher Stelle im Kurs Probleme zu haben scheint (bei spezifischer Auswertung der Daten einzelner Kursteilnehmer) bzw. wie schwer sich die Studenten mit einzelnen Teilen des Kurses tun (bei einer anonymisierten Auswertung der Daten aller Kursteilnehmer).
Natürlich sind diese Szenarien Idealbilder, die in der Realität nur mit Einschränkungen zu haben sind. Beispielsweise könnte ein Algorithmus zwar theoretisch aufzeichnen, dass ich einen Text öffne und darin herumscrolle. Wie intensiv ich ihn aber tatsächlich lese und verinnerliche, wird sich, wenn überhaupt, nur durch die Messung von Hirnströmen feststellen lassen. Gehen wir für das Beispiel aber einmal von einem „perfekten“ Onlinekurs mit gut konzipierten Lernstands-Quizzes nach jeder Lerneinheit aus: Wie sind diese Szenarien zu bewerten?
Im ersten Szenario erhält der Student im Idealfall eine spezifische Rückmeldung, was konkret noch zu lernen ist, um die Prüfung zu bestehen. Das ist praktisch, senkt es doch tatsächlich das Risiko einer nichtbestandenen Prüfung. Aber gehört nicht zum Studium auch wesentlich das Erlernen der Fähigkeit, selbstbestimmt beurteilen zu können, was ich in welcher Intensität lernen muss, um eine Prüfung zu bestehen? Ist diese Fähigkeit nicht im Zweifel sogar wichtiger als die Kenntnis der Lerninhalte selbst? Klar – dazu gehört im Zweifel auch, womöglich einmal die ein oder andere Prüfung zu versemmeln. Aber sollten Hochschulen nicht auch gerade ein Ort sein, an dem man aus dem Scheitern lernen kann? Denn, wenn man das weder in der Schule noch im Studium lernt, ist es im Berufsleben fürs Scheitern vielleicht zu spät. Auch eine Durchdringung der Inhalte erfolgt wahrscheinlich besser, wenn ich sie mir selbst erschließe, als wenn ein Algorithmus mir vorkaut, was ich noch nicht erschlossen habe. Insofern stellt sich der vermeintliche Vorteil der geringeren Durchfallquote hier schnell als Nachteil heraus.
Anders sieht es im zweiten Szenario aus: Der Nutzung von Learning Analytics zur Verbesserung der Lehre. Mit einer Einschränkung: Eine auf den einzelnen Kursteilnehmer heruntergebrochene Analyse der Lerndaten ist nicht nur datenschutzrechtlich höchst problematisch. Es ist auch fragwürdig, wie viele Studenten gar kein Problem damit hätten, dass ihr Dozent detailliert auswerten könnte, welche Studenten erst am Tag vor der Prüfung mit der Vorbereitung auf diese begonnen haben.
Im Fall einer anonymisierten Lerndatenauswertung können die Lerndaten dem Dozenten allerdings einen sehr hilfreichen Hinweis darauf geben, an welcher Stelle des Kurses didaktische Anpassungen von Vorteil wären. Sieht der Dozent etwa, dass alle Teilnehmer beim Modul 2b ins Stocken geraten, könnte er das Modul 2b gezielt anpassen. Der Qualität der Lehre wäre das sicherlich zuträglich, ohne das selbstbestimmte Studium zu gefährden.
Learning Analytics sind alles andere als voraussetzungsfrei. Ohne die Konzeption von digitalen und didaktisch gut aufbereiteten Kursen sind die anfallenden Lerndaten höchstwahrscheinlich nicht aussagekräftig genug. Learning Analytics als „Vorkauer“ von Bildungsinhalten einzusetzen, ist sicherlich nicht im Sinne eines hochschulischen Bildungsideals. Zur Qualitätsverbesserung digitaler und didaktisch gut aufbereiteter Lehre kann Learning Analytics allerdings sicher einen Beitrag leisten.
"Aber sollten Hochschulen nicht auch gerade ein Ort sein, an dem man aus dem Scheitern lernen kann?"
Das Prinzip "Lernen durch Scheitern" wird derzeit zwar vor allem im Tech-Sektor vielerorts glorifiziert. Im Leben der Studierenden und Dozierenden ist allerdings schon seit Jahren aus verschiedenern Gründen das genau Gegenteil der Fall. Der akademische und darüber hinaus gesamtgesellschaftliche sozioökonomische Stresslevel ist mittlerweile derart hoch, dass ein "Scheitern" schlicht und einfach nicht mehr vorgesehen ist. Scheitern ist keine Chance (auf was auch immer), sondern ein gewünschter systemischer Selektionsmechanismus mit weitreichenden Konsequenzen für alle Betroffenen.
Der gesamte meritokratische Apparat namens "Leistungsgesellschaft" zielt heute darauf ab, die vermeintlich "Besten" von den vermeintlich "Schlechteren" zu trennen. Es ist eines der Haupteigenschaften und zugleich Kernprobleme der Meritokratie, dass im Anschluss an diesen Selektionsprozess die wenigen "verdienten Gewinner" (die vorgeblich mehr "geleistet" haben) mehr oder weniger selbstgerecht auf die Klasse der "Verlierer" (die Minderleistenden) herabschauen dürfen. Die Mehrheit der Verlierer hingegen erlebt diese Verachtung als zutiefst beschämend, denn per Definition tragen sie allein die Schuld an ihrem Scheitern – sie waren einfach weniger leistungsbereit (vgl. dazu u.a. die Ausführungen des US-amerkanischen Philosophen Michael Sandel in "Das Ende des Gemeinwohls"). In einem solchen System sind die negativen Konsequenzen des Scheitern derart brisant, dass aus guten Gründen so gut wie niemand mehr bereit ist, dieses Risiko einzugehen. Das trifft auch auf die Universitäten und den Bildungsbetrieb allgemein zu.
"Aber gehört nicht zum Studium auch wesentlich das Erlernen der Fähigkeit, selbstbestimmt beurteilen zu können, was ich in welcher Intensität lernen muss, um eine Prüfung zu bestehen?"
Das sehe ich auch so. In einem Studium sollte vor allem die Fähigkeiten erworben werden, selbstbestimmt darüber urteilen zu können, welche Lerninhalte und Lernziele aus welchen Gründen für mich und meine Lebenswelt überhaupt relevant sind. Im Gegensatz zur Frage "Wie lerne ich erfolgreich?" ist es deutlich wichtiger, Antworten auf die Frage "Was lerne ich da überhaupt und wozu eigentlich?" zu formulieren. Lernen, um Prüfungen erfolgreich zu absolvieren, sollte dem Bildungsanspruch einer Universiät nicht ansatzweise genügen. Es ist daher sehr problematisch, dass die Universitäten im Nachgang zu Bologna letztlich zu einer verlängerten Variante von Schule geworden sind: Es wird für Prüfungen bzw. Noten gelernt, und Prüfungen finden statt, um Gelerntes zu überprüfen und zu benoten. Am Ende stehen dann die "Gewinner" als Gewinner und die "Verlierer" als Verlierer da. Und weil das offenbar nicht genug zu sein scheint, um engmaschig genug zu unterscheiden, werden jetzt sogar noch zusätzliche "optionale" Leistungsparameter in Form von "Kompetenznachweisen" in den Universitäten eingeführt.
Dieser überbordende Kredentialismus (eindimensionale Leistungsnachweise statt vieldimensionale Persönlichkeiten) führt dazu, dass Hochschulbildung für Studierende und Dozierende gleichermaßen zum reinen Wettlauf um Urkunden, Zeugnisse und sonstige Leistungsnachweise verkommt. Natürlich muss niemand diese Nachweise erbringen. Die implizite Aufforderung, die sich bereits aus der Existenz solcher Nachweisoptionen ergibt, lautet allerdings ganz anders. Sie betont, dass gerade der "freiwillige" Aspekt ein wesentliches Kriterium dafür ist, ob eine Person "leistungsbereit" ist oder eben nicht. Natürlich können Studierende darauf verzichten, diese zusätzlichen "Angebote" wahrzunehmen. Dann sind sie allerdings selbst dafür verantwortlich (d.h. selbst schuld daran), wenn sie ihren konkurrierenden Mitstudierenden gegenüber auf der Strecke bleiben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich ist es notwendig, erforderliches Basiswissen an die Studierenden zu vermitteln. Tatsächlich trägt das gesamte Prüfungs- und Notensystem aber eher weniger dazu bei, dass mit Freude gelernt wird, sondern dazu, dass mit wachsendem Erfolgsdruck für das Reflektieren der Bedingungen und Ergebnisse des Lernens keine Zeit mehr bleibt – und zwar weder bei den Studierenden, noch bei den Dozierenden. Für das Leistungssystem Hochschule ist allein wichtig, dass kontinuierlich geprüft und selektiert wird.
Hinzu kommt, dass die Einverleibung des akademischen Bildunbsbetriebs durch eine zutiefst neoliberale Agenda (Bildung als Markt) dazu geführt hat, dass Lernergebnisse oder auch universitäre Rankings zwangsläufig "quantifizierbar" sein müssen, um ihren Leistungserfolg zu illustrieren. Verkürzt gesagt geht es also im Kontext von "Lernerfolgen" allererst (oder sogar ausschließlich) um die Messbarkeit der Ergebnisse – sei es in Form von Noten, ECTS-Punkten, Evaluationen oder anderen Formen des sogenannten "Qualitätsmanagements". Lernergebnisse zielen primär auf ökonomische Verwertbarkeit. Scheitern unter den Voraussetzungen bildungsökonomischer Selbstvermarktung läuft auf einen direkten Verlust des persönlichen "Marktwerts" hinaus.
Es überrascht dann auch nicht weiter, dass digitale, algorithmische Verfahren des Lernens und Prüfens (aber auch in allen anderen Bereichen) aktuell einen solchen Hype erfahren. Schließlich schaffen sie eine ganz neue Qualität der Zählbarkeit, die bis in die kleinsten individuellen Spielräume der Studierenden und Dozierenden hineinragt und diese systematisch abschafft. Zeiträumlich begrenzte, öffentliche Prüfungen weichen dem Zwang zur kontinuierlichen, digital gestützten Selbstüberprüfung und Kontrolle. Jede Aktivität wird gezählt, ausgewertet und unwiderruflich verbucht. Wer nicht davor zurückschreckt, kann sich leicht ausmalen, wie die universitäre Bildungslandschaft vor dem Hintergrund der immer feingranulareren analytischen Durchdringung aller Teilnehmenden (personell und institutionell) zukünftig beschaffen sein wird.
Ein großer Teil der Tragödie besteht darin, dass sich das meritokratische (Bildungs-)System im Rückgriff auf die in ihm selbst angelegten Strategien der Selbstimmunisierung so erfolgreich reproduziert. In einer etablierten Meritokratie entscheiden nahezu ausschließlich die sogenannten "Leistungsstärksten" (d.h. die mit dem größten Marktwert) darüber, wie das Zusammenspiel von Bildung und Gesellschaft zukünftig gestaltet werden soll. Es darf also bezweifelt werden, dass die im Glauben an die eigene Überlegenheit gekürten "Sieger" des Systems ein ernsthaftes Interesse daran aufbringen, ein in sich defektes System zugunsten der selbst verschuldeten "Verlierer" zu korrigieren.
Danke für den ausführlichen Kommentar! Ich glaube, wir sind uns grundsätzlich einig, dass Hochschulbildung mehr sein muss als quantifizierbare Lernergebnisse. Ihren Pessimismus teile ich allerdings nur bedingt. Sowohl in meinem eigenen Studium (das war auch schon nach Bologna) als auch in Gesprächen mit derzeitigen Studenten habe ich nie den Eindruck gewonnen, dass ein Scheitern in einer oder mehreren Prüfungen gleich zum Aussieben und als Selektionsmechanismus funktioniert hätte. Im Gegenteil: Das Nichtbestehen einer Prüfung hat oft sogar positive Effekte auf den weiteren Studienverlauf. Und darüber hinaus war es bislang in meiner Erfahrung noch nie ein Problem, wenn Studierende, nach zwei, drei oder sogar nach fünf Semestern, ein Studium abbrechen und auf ein anderes Fachgebiet umschwenken. Und selbst, wenn das heute so sein sollte, wäre das aus meiner Sicht umso mehr ein Argument gegen den Einsatz von Learning Analytics, um einen Trend in die falsche Richtung nicht noch zusätzlich zu befördern.
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