Wir müssen nicht bei Null beginnen: Gedanken zu hybrider Tutorienarbeit

Wir müssen nicht bei Null beginnen: Gedanken zu hybrider Tutorienarbeit

26.11.21

Seit Beginn der Pandemie müssen nicht nur Professor:innen umdenken und digitalisieren, auch Tutorien müssen umgedacht werden. Leider trauen sich wenige Studierende die Umstände eines „hybriden“ Tutoriums zu, viele fühlen sich überfordert. Im Interview spricht DigitalChangeMaker-Aktivistin Coo Kalkowsky über Herausforderungen und Potentiale.

Liebe Coo, du bist nicht nur bei der Zukunfts-AG der DigitalChangeMaker sehr aktiv, sondern setzt dich auch an ganz vielen anderen Schnittstellen für eine ganzheitlich gedachte Digitalisierung in der Lehre ein. Magst du uns kurz erzählen, was diese Schnittstellen sind und wieso dir das Thema der hybriden Tutorienarbeit besonders am Herzen liegt?

Dass ich mich damit tiefer gehend auseinander gesetzt habe, war tatsächlich ein glücklicher Zufall: Letztes Jahr hatte ich mich allgemein bei den Fachschaften meiner Universität zum Thema Digitalisierung erkundigt. Einer meiner Kommilitonen hat in diesem Rahmen die Tutorien auf meinen Radar gebracht. Ich arbeite im Zentrum für Hochschulentwicklung und mein bisheriger Eindruck war, dass unsere Schulungsangebote dazu ausreichend wären. Die Hinweise meines Kommilitonen haben bei mir eine Reflektion zu Angeboten in diesem Bereich angestoßen. Das hybride Semester hat mir besonders vor Augen geführt, wie dringend wir in diesem Bereich vorankommen müssen.

Wir befinden uns gerade in einer Ausnahmesituation, in welcher die meisten Hochschulen ihre Lehre weder komplett digital noch komplett analog anbieten. Vielerorts entstehen hybride Formate. Was braucht es deiner Meinung nach, damit hybride Lehre gut für alle funktioniert?

Die meisten würden jetzt vermutlich “besseres Internet deutschlandweit” oder “technische Ausstattung in Räumen” sagen. Das ist natürlich nicht falsch, aber ich glaube, zuallererst sollte ein Konzept stehen. Es braucht ein echtes Verständnis dafür, dass hybrid mehr ist als “wir machen einen Livestream an” und genug Selbstreflektion um einzusehen, dass die Vorstellung, wir könnten alles parallel machen, weil es “ja nur am Rechner” ist, nicht stimmt.

Digitale Lehrformate können auch mehr Möglichkeiten bieten, Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden anders zu gestalten. Beispielsweise kann man mit Smileys auf Inhalte reagieren, seine digitale Hand (für alle sichtbar) heben oder jemanden eine private Chat-Nachricht aufgrund eines spannenden Wortbeitrags schreiben. Doch wo gibt es auf kommunikativer Ebene neue Herausforderungen und Fallstricke?

Wir können uns nicht mehr auf angelernte Strategien verlassen. Viele davon reduzieren sich immer noch auf den analogen Raum. Wenn man zu sehr daran festhält, dass es möglichst gleich sein soll, dann scheitert man schon an einer ausgeschalteten Kamera. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir uns an gewohnten Kommunikationsmethoden aus dem analogen Leben orientieren. Es geht darum, zu reflektieren wie wir selbst am besten arbeiten (kommunizieren) und was wir brauchen, dann verstehen wir auch die Bedürfnisse der anderen besser. Natürlich sollte man dabei nicht vergessen, dass Menschen verschieden sind, auch in dem Punkt was sie für Kommunikation brauchen. Aber auch das ist im analogen Raum ja genauso. 

Studentische Tutor:innen stehen gewissermaßen zwischen den Stühlen: Sie sind selber von den Veränderungen der Lehre durch die Pandemie als Studierende betroffen, lehren aber gleichzeitig unter neuen Bedingungen. Wie kann man speziell sie bei der Durchführung hybrider Tutorien unterstützen?

Ich würde mal ganz keck behaupten, dass für sie dasselbe wie für Lehrende aus anderenen Statusgruppen gilt: Man kann nur gute Lehre machen, wenn man seinen eigenen Lehrstil finden und durchführen kann. Die angesprochene Doppelrolle macht das, gut genutzt, vielleicht sogar leichter. Tutor:innen erleben gerade selbst verschiedene Formate, verschiedene Lehrende. 

Lehrende nutzen für solche Einblicke extra Hospitationen bei Kolleg:innen, es kann also ein echter Vorteil sein. Natürlich braucht man bei diesem Reflexionsprozess der erlebten Lehre Unterstützung. Das ist auch genau, was ich sagen würde, was Tutor:innen brauchen: Unterstützung. In diesem “den eigenen Lehrstil finden” aber auch beim Ausprobieren von Formaten und beim Zugang zum komplexen Feld der Hochschuldidaktik. Nicht jede:r hat die Muße, sich da selbst einzuarbeiten. 

Was sollte bei Qualifizierungsprogrammen für studentische Tutor:innen bedacht werden? (Und welche Rolle spielen didaktische Programme in Bezug auf neue digitale und hybride Lehrformate?)

Mit der Didaktik ist es wie mit der Kommunikation, die Regeln verändern sich ja nicht schlagartig. In Vorlesungen sollte man schon immer das Medium nach 20 Minuten wechseln, das gilt jetzt genauso. Es gibt ein paar Punkte, die dazu kommen, aber die Grundprinzipien sind dieselben. Deswegen muss man die didaktischen Fähigkeiten natürlich auch weiterhin schulen. Bei Qualifizierungsporgrammen für Tutor:innen muss, glaube ich, viel mehr mit den Tutor:innen selbst gesprochen werden. Wenn Konzepte erarbeitet werden, wird das doch meist mit Lehrenden getan: “Was brauchen eure Tutor:innen?”. Das müssen wir ändern. Vielleicht sollte man hier auch weiter gehen und Studierende insgesamt befragen. Denn vielleicht gibt es ja auch Hürden, die wir nicht sehen, warum sich manche Studierende nicht zutrauen, Tutor:in zu werden. Ein gutes Qualifizierungsprogramm sollte zum Ziel haben, dass nicht nur Leute, die bereits Tutor:innen sind, unterstützt werden, sondern auch Leute, die es werden wollen. Natürlich darf ein auf den Bedürfnissen Studierender basiertes Programm nicht unflexibel oder statisch werden. Was die eine Person braucht, ist für die andere vielleicht uninteressant. Wir können uns hier viel von den Zertifikatsprogrammen für Lehrende abgucken. 

Es sollte ein paar grundlegende Bausteine für alle geben, aber die spezifische Ausrichtung bleibt Wahlsache der einzelnen Tutor:innen. Generell sollten Teilnehmer:innen auch die Wahl haben, ob sie am gesamten Programm oder nur an bestimmten Veranstaltungen teilnehmen möchten. Eine Einführung oder ein Crash-Kurs könnten definitiv die Hürde senken, sich überhaupt etwas unter seiner eigenen Rolle als Tutor:innen vorstellen zu können. Wenn sie teilnehmen wollen, sollte dies in ihrer Arbeitszeit möglich sein. Schließlich haben Lehrende etwas davon, wenn ihre Tutor:innen sich weiterbilden. 

Damit gerade der Punkt mit der Arbeitszeit auf mehr Zuspruch stößt, könnte man auch darüber nachdenken, das Programm begleitend zum Tutorium im Rahmen der Vor- und Nachbereitung anzubieten. Es sollte auch die Möglichkeit bestehen, das Erlernte zu dokumentieren und damit für die Teilnehmer:innen besser nutzbar zu machen, zum Beispiel mit einem Zertifikat. Ebenso muss es eine Unabhängigkeit vom jeweiligen Lehrstuhl geben.

Man könnte jetzt behaupten, dass es reicht, wenn Professor:innen und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen an Schulungsprogramme zu digitaler und hybrider Lehre teilnehmen und dieses Wissen dann an ihre studentische Tutor:innen vermitteln. Was spricht dagegen?

Das sind ja auch alles nur Menschen. Menschen vergessen bei der Weitergabe von Informationen immer etwas. Hochschuldidaktische Workshops sind, im besten Fall, so angelegt, dass jede Person aus jeder Fachrichtung etwas für sich mitnehmen kann. Nämlich das, was für sie hilfreich ist. Es gibt jedoch, wie gesagt im Idealfall, eine Auswahl aus der Lehrende wählen können. Menschen sind verschieden, nicht jeder Lehrstil, jedes Tool passt zu allen. Das ist gut so. Wenn man jedoch Lehrende die Informationen nur weitergeben lässt, läuft man Gefahr, dass eine bewusste oder unbewusste Vorauswahl durch den Lehrenden getroffen wird. Oft sind das Aspekte, die für den Lehrstuhl besonders interessant sind. Tickt der gesamte Lehrstuhl ähnlich, kann das unproblematisch sein, auch wenn man sich dann mal zwecks Diversität Gedanken machen sollte. Aus meiner Sicht müssen wir weg vom Mantra “Das haben wir schon immer so gemacht”. Wir genießen alle die Freiheit der Lehre und die Vielseitigkeit, die dadurch entsteht. Warum nicht von Beginn an genau das fördern? Die freie Wahl für einen eigenen Lehrstil, statt bloße Kopie der Vorgesetzten. 

Dass digitale Lehre nicht automatisch barriereärmer als der Präsenzbetrieb ist und seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich bringt, rückt langsam mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein. Trotzdem muss an vielen Stellen noch für (digitale) Barrierefreiheit sensibilisiert werden. Was sind mögliche Strategien?

Das frage ich mich schon seit eineinhalb Jahren. Meine neueste Idee ist, es den Menschen einfach “unterzujubeln”. Wenn man Veranstaltungen mit Barrierefreiheit oder Inklusion betitelt, ist die Resonanz leider oft gering. Dazu kommt, dass Teilnehmer:innen solcher Veranstaltungen sich meist schon vorher eingehend mit den behandelten Themen auseinandergesetzt haben. 

Wir müssen beim Konzipieren solcher Konzepte die Hochschulwelt nehmen, wie sie ist. Vermutlich brauchen wir, bevor wir mit Aufklärung beginnen können, überhaupt ersteinmal das Schaffen eines allgemeinen Bewusstseins dafür, dass mehr getan werden muss. Innerhalb der meisten Universitäten selbst, auf Bundes- und Landesebene. Wie schwierig zugänglich und wie diskriminierend die Strukturen in diesem Bereich häufig sind, bekommen meist nur Betroffene und Angehörige mit. 

Engagierte Menschen sind dann meist schon damit ausgelastet, diese Strukturen auszugleichen oder sich gegen Diskrimierung einzusetzen. Es muss ein echtes Querschnittsthema werden, es muss normal werden, dass dieses Thema alle angeht und Strukturen müssen radikal verändert werden, um die Reproduktion von Diskrimierung wirklich zu stoppen. Wir reden in so vielen Bereichen immer wieder von Visionen, in diesem Bereich meist eher von Schadensbegrenzung. Ich denke, wir sollten es viel mehr als Gesamtkonzept für mehr Vielfalt und als Querschnittsthema etablieren. Auch wenn es schwerfällt, da muss noch sehr viel Grundlagenarbeit passieren.

Auf Sensibilisierung sollten bestenfalls Taten folgen. Was kann getan werden, um hybride und digitale Formate inklusiver und barriereärmer zu gestalten, vor allem in Bezug auf die Tutorienarbeit?

Das Schöne am Hybriden (und am Digitalen im besten Fall auch) ist ja, dass wir gezwungen sind, mehr auszuprobieren. Es gibt bei guter Konzeptionierung mehr als nur einen Kommunikationsweg. Das allein ist hilft der Inklusion schon sehr. Im digitalen Raum ist es leichter, Inhalte verschieden aufzubereiten und von vornherein besser auf individuelle Bedarfe eingehen. Zum Beispiel kann ich gleich zu Beginn meine generelle Hilfsbereitschaft und Offenheit klar kommunizieren – zack, schon wieder etwas für mehr Inklusion getan. 

Denkbar wäre zur Qualitätssicherung von E-Tutorien auch eine Art Checkliste. Material kann Peer-to-Peer gegengelesen werden, Mails gemeinsam verfasst werden. Es herrscht ja häufig der Irrglaube, wenn ich inklusiv sein will, muss es gleich perfekt sein – überhaupt nicht nötig. Um inklusiv zu sein, muss man dafür offen sein, dass man Hürden übersieht und diese anpassen. Das ist ein Prozess und damit kann man auch völlig offen umgehen. Das stärkt die Fehlerkultur und schafft Vertrauen: “Hey, ich arbeite mich in das Thema gerade erst ein. Sagt mir bitte Bescheid, wenn ihr etwas in meinem Material entdeckt”. 

Es liegt ja in der Natur der Sache, dass Nicht-Betroffenen Barrieren gar nicht auffallen. Ich bin selbst Betroffene und trotzdem bin ich für mindestens 87% der Barrieren blind. Das liegt schlicht daran, dass meine Erkrankungen und Behinderung ja nur einen Bruchteil von dem abbilden können, was alle Betroffenen erleben. Das Beste, was für die Tutorienarbeit passieren kann, ist, dass die Gruppe der Tutor:innen diverser wird und in Peer-to-Peer-Gesprächen und -Prozessen gemeinsam voneinander profitiert. So können wunderbar Berührungspunkte geschaffen werden. 

Hochschulen sind generell keine diskriminierungsfreien Räume und Tutorienarbeit ist davon auch nicht ausgenommen. Welche Skill Sets sollten studentische Tutor:innen besitzen oder erlernen, um Diskriminierungserfahrungen adäquat zu begegnen?

Es gibt da verschiedene Methoden und es gibt verschiedene Ursachen dafür, wenn dem nicht adäquat begegnet wird. Um da wirklich eine konkrete Empfehlung zu geben, müsste ich diese auf eine explizite Situation anpassen können. Es gibt Situationen, in denen manche Tutor:innen einfach noch keine Erfahrungen mitbringen, andere sind vielleicht emotional überfordert. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist das A und O. Wir sollten uns außerdem bewusst sein und akzeptieren, dass niemand frei von diskriminierendem Verhalten ist – das macht uns auch nicht zu schlechteren Menschen.

Reflexhaft sagen wir oft: “Was? Nein! Ich würde doch nie jemanden diskrimieren.” – wie auch bei rassistischem Verhalten. Wir alle haben aber, in verschiedenen Feldern unterschiedlich stark, Diskriminierung verinhaltlicht und reproduzieren sie. Das heißt nicht automatisch, dass wir die jeweils dazugehörige Meinung auch aktiv vertreten würden. Im Bezug auf Inklusion denke ich gerade zum Beispiel an das sehr unvollständige Bild, das viele von Menschen mit Behinderungen haben. Wir sollten diese Voraussetzungen annehmen und versuchen zu verstehen.

Die neue Umstände verlangen studentischen Tutor:innen schon einiges ab. Wie schafft man es, Tutor:innenarbeit weiterhin attraktiv zu machen? Was können beispielsweise Hochschulmitarbeiter:innen und -entscheider:innen tun, um ihre Tutor:innen zu unterstützen?

Das fragt man die Tutor:innen am besten selbst, meist kommt das ganz auf die Person an. Maßnahmen sollten sich immer an den Bedürfnissen der Tutor:innen orientieren und ihre Arbeit erleichtern. Ein Zertifikat ist für einige als Kompetenznachweis passend. Andere profitieren vielleicht mehr von Peer-to-Peer-Veranstaltungen und wollen sich austauschen und schwierige Erfahrungen reflektieren. Wieder andere möchten am liebsten neue Formate ausprobieren, wissen aber nicht, wo sie ansetzen sollen und benötigen vor allem konzeptionelle Unterstützung. 

Das Beste was Mitarbeiter:innen und Entscheider:innen tun können, ist und bleibt: zuhören. Mit Studierenden reden und darauf Maßnahmen aufbauen. Diese sollten möglichst vielseitig gestaltet sein, damit für alle etwas dabei ist. So entwickeln Tutor:innen potenziell eine Lehre oder Kompetenzen, die genau in das eigene Bild von guter Lehre passen. Dadurch erleben sie Selbstwirksamkeit und machen die Tutor:innen-Arbeit auch attraktiv für andere. Dazu braucht es dann auch gar kein externes Anreizsystem mehr: Selbstentfaltung, Selbstwirksamkeit, Unterstützung  – das sind schon sehr verlockende Faktoren für einen Job. 

Liebe Coo, danke, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch genommen hast!

Über die Themen „Digitale Kompetenzen“ und „Barrierefreiheit und Inklusion“ sprach Coo Kalkowsky auch beim University:Future Festival 2021.

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