Interview mit Max Senges von der 42 Wolfsburg

Interview mit Max Senges von der 42 Wolfsburg

08.06.22

Porträt von Max Senges

Ein Studium ohne Professor:innen und gemeinsame Vorlesungen für das sich jede:r bewerben kann – könnte so die Hochschullehre von morgen aussehen? Max Senges stellt es sich so vor. Er ist Rektor der IT-Hochschule 42 in Wolfsburg, wo praxisnahe, peer-learning-gestützte Konzepte schon heute umgesetzt werden. Die Idee zu einer solchen Hochschule kommt aus Paris, doch sie ist auch in Deutschland sehr erfolgreich. Warum es Community, das Intenet und Philosophie braucht, um das Lernen zu lernen, erfahren Sie in im Interview.

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Was macht 42 Wolfsburg anders als andere (Hoch-)Schulen für Software Engineers? 

Porträt von Max Senges

Das ist natürlich die Gretchenfrage, die wir oft hören. Die Kurzzusammenfassung ist die: Wir sind eine Hochschule ohne Professoren, ohne Vorlesung und dadurch auch konsequenterweise ohne staatlich anerkannten Abschluss, denn wir gehen wirklich auf Kompetenz-Lernen und nicht auf Zertifikat-Lernen ein. 

Das heißt, bei uns sitzen die Studierenden ab Tag eins an der Programmieroberfläche und bekommen sehr, sehr viel Praxis. Durch projektbasierte Programme lernen sie mit Aufgaben, die sie alleine und in Teams recherchieren und sich quasi langsam aber sicher vorarbeiten, um immer komplexere Projekte bewältigen. Idealerweise entsteht da so ein Lernflow-Gefühl, wo man immer wieder weiter gefordert wird. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig, damit es nicht langweilig wird. So entsteht ein hoher Communitygedanke und eine sehr ausgeglichene Form von Peer Learning, d.h. man bekommt das Wissen nicht von einer Autoritätsperson, wie zum Beispiel einem Professor, mit dem man dann auch entsprechend interagieren muss, sondern bei uns sind alle Lernenden auch gleichzeitig Vermittler:innen von dem Wissen, weil sie ihre Aufgaben abgeben und Kommiliton:innen treffen, denen sie das vorstellen und diese stellen dann entsprechend Fragen. So lernt man gemeinsam durch Erklären und durch Zuhören bei den Mitstudierenden.  

 

Durch die selection bootcamps wählt 42 seine Studierenden streng aus. Inwiefern ist diese Selektion Teil des Erfolgsrezepts?  

Was ich als unheimlich wichtig empfinde und was man auch als Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zum klassischen Hochschulbereich ansehen kann, ist, dass wir keine Zertifikate im Vorhinein verlangen. Bei uns kann wirklich jeder ab 18 einfach auf unsere Website gehen und zwei Vorauswahltests machen  – ob das jemand Geflüchtetes aus der Ukraine oder Afghanistan ist, oder Leute, die keinen Zugang zu ihren Papieren haben, weil sie die verloren haben, etc. – egal. Bei den Tests geht es ums algorithmische Denken, das ist also ganz explizit auch ohne Programmiervorkenntnisse zugänglich. Da merken die Kandidat:innen dann schon von selber, ob das was für sie ist. Diese Auswahltests am Anfang sind zum Beispiel komplett ohne irgendwelche Instruktionen, d.h. man sitzt erst mal da und muss es ausprobieren. Da merkt man schon mal, ob dieses explorative Lernen à la “Ich probiers jetzt mal” und dann funktioniert es erstmal zehnmal nicht für eine:n funktioniert. Dann hat man aber dieses Erfolgserlebnis. Die Frage ist: Hat man diesen Biss, diese persistence, sich da durchzukämpfen? 

Die, die es dann schaffen, zu einem bestimmten Level zu kommen und zeigen, dass sie in diesen Denkmodus drin sind, werden dann zu einem vierwöchigen Bootcamp eingeladen. Ungefähr 450 Leute werden da in drei Sessions eingeladen und zum Schluss kommen dann 150 dabei raus, d.h. ein gutes Drittel wird dann bei uns zu Studierenden. Darauf bezogen: Ist das das Erfolgsrezept? Ich glaube schon, dass das ein wichtiger Aspekt ist, dass man das mal zusammen ausprobieren kann. Klar, es gibt ganz unterschiedliche Persönlichkeitstypen, Lerntypen und unterschiedliche Reifegrade. Unsere Studierenden reichen von 18 bis 58 Jahren und je nachdem wie reif man ist, ist man vielleicht schon eher in der Lage, diese Disziplin zu haben, die Selbstorganisation und die Motivation, um in so einem sehr offenen Umfeld sehr liberal und selbstbestimmt zu studieren. Du entscheidest selbst, wann du was lernst, machst Fortschritte je nachdem wie du dich organisierst. Das liegt vielleicht nicht jedem, aber ich glaube, dass jeder die Anlage besitzt, das zu tun. 

Ich würde nicht sagen, dass wir eine besondere Art von Menschen da aussortieren, aber wir fangen nicht bei Null an, zumindest die Motivation muss sehr hoch sein. Bei weniger Vorerfahrung braucht man umso mehr Commitment und umso mehr muss man sich auf die Sache auch einlassen.  

 

Was wären deine ersten drei Maßnahmen, wenn du Präsident/Vizepräsident der Lehre an einer deutschen Technischen Uni wärst und den Auftrag hättest, einen Studiengang Software Engineering von Grund auf neu aufzuziehen?

Sehr schöne Frage! Ich glaube, dass Software Engineering im Speziellen, aber das trifft auch auf sehr viele Disziplinen zu, vor allem eine Praxis ist. Wirklich ein Handwerk, in dem es darum geht, nicht theoretisches Wissen zu haben, mit einer unheimlich Fülle an Hintergrundinformation und einem Verständnis, sondern es geht ganz explizit darum, Probleme zu lösen. Wirklich der projektbasierte Ansatz, wo es darum geht, Dinge zu schaffen und selbstständig Probleme zu lösen. Das wäre mir ein großes Anliegen. Ich glaube auch an das Konzept des Flipped Classroom: Die klassische Wissensvermittlung, die Vorlesung oder das Erklären von Konzepten – das kann sehr gut aus der Dose passieren. Da kann man sich die besten Dozenten:innen und Professor:innen raussuchen, diese aufnehmen und dann kann sich das jeder in seiner eigenen Geschwindigkeit und gegebenenfalls auch in Wiederholung reinziehen. Dann kommt man in den Lehrinstitutionen zusammen um gemeinsam was daraus zu machen, um das zu hinterfragen und zu diskutieren. Und nicht, um sich 1,5 Stunden Vorlesung reinzuziehen. Das wäre der zweite Aspekt. 

Mein Hintergrund ist ja zunächst in der Wirtschaftsinformatik gewesen und dann hab ich zu oft ”Warum?” gefragt, und in Philosophie promoviert. Ich glaube, dass das Selbstverständnis der Lernenden, “Wo wollen die hin?”, völlig unterbelichtet ist im momentanen Bildungssystem. Ein bisschen “One Size Fits All”. Die Frage nach dem, was jemand machen will, taucht immer nur am Rande kurz auf. Ich glaube, dass für alle Studierende ein kultivierter, strategischer und gut aufgestellter Dialog mit ganz Vielen über Themen wie “Was willst du mit deinem Leben machen? Was ist dir wichtig? Welche Fragen hast du?” eine ganz andere Motivation und eine andere Passgenauigkeit der Profession und der entsprechenden Ausbildung mit sich bringen würde.

 

Was können (öffentliche) Hochschulen sich von 42 Wolfsburg abschauen? Was funktioniert auch ohne Millionenförderung aus der Wirtschaft?

Ich glaube, dass der finanzielle Aspekt nicht so ist, dass man sagen könnte, wir wären gut ausgestattet und die öffentlichen Hochschulen wären nicht so gut ausgestattet. Ich glaube, unser Budget pro Student ist deutlich geringer als das bei öffentlichen Hochschulen der Fall ist. Was könnte man sich da abschauen? Seit spätestens Mitte der 90er-Jahre bauen wir die größte Wissensdatenbank der Welt immer weiter in Co-Creation gemeinsam auf – das Internet. Der Umgang mit dem Internet in Lehre und Forschung ist meiner Meinung nach recht hemdsärmelig. Diese paradigmen-wechselnde Innovation des Internets sollte sich positiv auf Universitäten auswirken. Die Beobachtung ist sehr punktuell. Es gibt viele Professor:innen und Akteur:innen, die es in ihrem Umfeld vorantreiben, aber noch nicht den strukturellen Wechsel, dass es eben viel mehr darum geht, Wissensprojekte und Wissensanwendungen zu planen und umzusetzen und dies strukturiert zu tun. 

Insofern, Lernen lernen oder das Internet nutzen lernen oder die Umgebung um einem herum zu nutzen, um Ergebnisse zu produzieren: Das sind so Grundkonzepte. Man könnte noch mehr als es im Moment der Fall ist, in Hochschulen zwischen Metafähigkeiten und konkreten Fachfähigkeiten unterscheiden. Was nicht zuletzt dazu führen würde, dass in diesen allgemeineren Studienaspekten transdisziplinäre, multidisziplinäre Szenarien entstehen, was einem “Fachidiotentum” entgegenwirken könnten. Partizipation zum Beispiel in den Organisationen bekommt eine ganz neue Dimension, nicht zuletzt in dem politischen Umfeld, das wir in den letzten Monaten erleben. Die Frage nach einer demokratischen Konstitution innerhalb einer demokratischen Gesellschaft bekommt eine neue Relevanz und damit auch solche Dinge wie z.B. Citizen Literacy. Grundsätzlich ist das Ergebnis meiner Studien gewesen, dass ein philosophisches Verständnis von Entrepreneurship hilfreich ist, um in dieser sehr komplexen und vielfältigen Welt voranzukommen. 

Nochmal ganz konkret: Man kann sich von uns abschauen, die Skalierbarkeit von Curricula zu ermöglichen, indem man diese online anbietet und durch viele unterschiedliche Akteure weiterentwickelt. Unser Curriculum wird zwar koordiniert durch die Zentrale in Paris, es kommen aber Inputs von allen Schulen weltweit rein. Das hat zur Folge, dass die 42-Ausbildung in Seoul genauso gut ist wie in Sao Paolo, in Marokko oder Finnland. Das ermöglicht eine tolle Mobilität für die Studierenden und auch eine schnellere Entwicklung und Anpassung auf neue technische Gegebenheiten. 

 

Sind Absolvent:innen von 42 Wolfsburg bessere Software Engineers? Wenn ja, warum?

Jede:r Absolvent:in steht ja für sich allein. Insofern, anstatt zu sagen, es sind alle besser, glaube ich eher, dass wir das komplette Spektrum haben. Von absolut sehr, sehr guten Entwicklern, die in enormen Geschwindigkeiten vorangehen, bis zu Leuten, die sich unheimlich was trauen und in der Mitte ihres Leben was Neues ausprobieren und coden. Dementsprechend muss dann realistisch auch andere Erwartungen haben, wie weit die Ausbildung geht und wie hoch die Abschlusskompetenz dann ist. 

Spezifisch fürs Coden: Was alle 42er haben und was ich auch für ein Wettbewerbsvorteil halte, ist ein sehr fortschrittliches, pragmatisches, problemorientiertes Mindset. Du kannst 42ern eine Aufgabe geben und brauchst da keine Schritt-für-Schritt-Erklärung mitreichen. Die organisieren sich, übernehmen Ownership und produzieren erst und fragen dann nach Verbesserungsvorschlägen. Sehr gute Feedbackkultur ist ein Merkmal. Alle sprechen natürlich Englisch, sind also auch international gut einsetzbar. Teamfähigkeit in ganz diversen Kontexten. Was uns in Wolfsburg und Berlin wichtig ist, ist das Thema Verantwortung übernehmen, auch im ethischen Sinn. Als Techniker kann man nicht sagen, man hat nur die Anweisung bekommen. Man muss sich fragen, und auch zur Sprache bringen, wofür die Technik eingesetzt wird. In solchen Bereichen, glaube ich, ist es was besonderes ein:e 42 Absolvent:in zu sein und sich am Arbeitsmarkt zu beweisen. 

Ein ganz wichtiger Aspekt der 42 ist, dass man immer zurückkommen kann. Lebensbegleitend quasi. Vor dem nächsten Job kann man zum Beispiel für eine Spezifizierung für sechs oder zwölf Monate zurückkommen und nochmal weiter an seinen Fähigkeiten feilen. Oder man probiert einfach aus, bis man was gefunden hat, was zu einem passt.

 

Wie sieht ein “Standardstudium” an der 42 aus?

Die Frage nach einer Standardlänge ist schon berechtigt. Ich hatte ja schon bemerkt, dass das Studium sehr studentenzentriert ist und darauf basiert, wie viel Zeit und Vorwissen die Studierenden einbringen können. Aber generell kann man, glaube ich, sagen, dass es ungefähr ein einjähriges bis anderthalbjähriges Grundstudium ist für alle – auch international mit unseren 30 weltweiten Locations, Netzwerken und 14.000 Studierenden. Nach dem Grundstudium gibt es ein sechsmonatiges Praktikum, das sich die Studierenden komplett selbst aussuchen. Natürlich können sie auch die Angebote von unseren Partnern wahrnehmen, also durch die Unterstützung von SAP, Google, Microsoft, Volkswagen oder in Berlin seit neustem auch Bayer. 

Was vielleicht ganz spannend ist auch, dass ungefähr zwei Drittel der 42er nach dem ersten Praktikum schon ein Jobangebot bekommen, einfach, weil die gut mitdenken, auf Feedback reagieren, etc. Wir haben auch das Glück, dass nur ungefähr ein Drittel das Jobangebot auch annimmt. Mit denen sind wir auch total happy, die können immer wiederkommen, aber mit denen können wir dann nicht direkt weitermachen. Denn beim zweiten Teil des Studiums gibt es dann die Spezialisierungen. Wir sind auch gerade dabei, die ein bisschen genauer zu clustern, damit es dann konkret die Spezialisierung auf Game Developement gibt, eine für Cybersecurity, Künstliche Intelligenz und Operating Systems und eine, was wir besonders spannend finden, für Automotive and Mobility. 

Die 42 in Wolfsburg und Berlin sind ja den verschiedenen Marken und Aktivitäten des Volkswagen Konzerns angebunden bzw. haben da Freunde und Kolleg:innen und haben deswegen gesagt, dass wir speziell Software in diesen Bereichen entwickeln wollen. Wir haben ein Fellowship-Programm aufgesetzt in dem Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis sich bei uns andocken können. Ist also sehr niedrigschwellig angesetzt, um möglichst breit die Möglichkeit zu geben, Mentoring Opportunities für Studierende und Einblicke in unser Konzept zu bieten. Das passiert alles im Hauptstudium. Je nachdem, wie viele Spezialisierungen man durchläuft, kann das nochmal zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen. Das heißt, ein Studium kann, wenn es sehr schnell durchgezogen wird, ungefähr 18 Monate dauern, um dann ungefähr Bachelor-Niveau zu erhalten. Wenn man dann noch die Spezialisierung durchläuft, kommt man auf 24 bis 36 Monate, um dann ungefähr bei Master-Niveau rauszukommen.

 

Was unterscheidet euch von anderen privaten Hochschulen wie zum  Beispiel der Code University, die auf den ersten Blick ja ähnliche Values vertritt wie ihr? 

Zunächst muss ich einmal festhalten, dass die Kolleg:innen der Code und ich uns gut kennen, wir uns auch gegenseitig sehr schätzen. Ich finde, es gibt unheimlich viel Platz in dem Feld um in Coopetition sich gegenseitig zu ergänzen, zu kooperieren und natürlich im Wettbewerb zu stehen. In dem konkreten Fall haben sich die Kolleg:innen dafür entschieden, eine staatliche Anerkennung zu machen, und das heißt natürlich auch, dass man das ganze Korsett, das da mitkommt, dementsprechend bedienen muss. Grundsätzlich macht die Code aber auch praxisbasierte Projekte. Die Gamification ist vielleicht weniger ausgeprägt. 

Wir haben ja nicht nur einen lustigen Namen, der sich auf das Buch “Per Anhalter durch die Galaxis” bezieht (mit der 42 als Antwort auf die  Frage nach dem Sinn des Lebens), sondern die Studierenden “spielen” sich ja quasi auch durch unser Curriculum.  Sie kriegen Experience Points, auch je nachdem ob sie Zusatzaufgaben machen oder nicht. Mann erhält Karmapunkte, wenn man sich für die Community einsetzt. Lauter solche Aspekte, die man vielleicht eher von einer Online Community erwarten würde. Wir haben einen sehr guten Personalschlüssel, wenn es um die Kosten geht. Auf die 600 Studierenden, die wir in Wolfsburg und nochmal in Berlin als Kapazität haben, kommen dann jeweils nochmal sechs Festangestellte als Kernpersonal. Das ist, glaube ich, sehr effizient und trotzdem hochwertig, im Sinne eines Servicegedanken bzw. Studentenzentriertheit. Bei anderen HS hat man manchmal das Gefühl, die Professoren sind wichtiger als die Studierenden. Bei uns ist das, glaube ich, anders. Dass wir sehr offen und unprätentiös und hoffentlich auch einigermaßen sympathisch mit den Studierenden umgehen und versuchen, deren Probleme mit zu lösen. 

 

Wir bedanken uns bei Max Senges für dieses Interview!

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