Digitalisierung als Problemlöser II – Neue Präsenzformate

Digitalisierung als Problemlöser II – Neue Präsenzformate

15.06.15

Jürgen Handke ist Betreiber des Virtual Linguistics Campus, der weltweit größten Lernplattform für Inhalte der englischen und allgemeinen Sprachwissenschaft. Sein YouTube-Kanal „Virtual Linguistics Campus enthält mehrere hundert frei zugängliche selbst-produzierte Lehrvideos und ist der größte seiner Art. Seit 2006 hat er seine Lehre sukzessive vollständig digitalisiert und die entsprechenden Formate curricular verankert. Handke ist ein Hauptvertreter des „Inverted Classroom“ Modells, mit dem er in seiner „Mastery“-Variante im Jahr 2013 als Preisträger im Hessischen Wettbewerb für Exzellenz in der Lehre ausgezeichnet wurde. In seiner neuesten Publikationen „Handbuch Hochschullehre Digital“ (2015a) setzt er sich intensiv mit digitalisierten lehr- und Lernszenarien auseinander. Im Blog diskutiert er neue Möglichkeiten für die Präsenzlehre und stellt ein Konzept zur zeitlichen Flexibilisierung von On-Campus Kursen vor, das erstmalig im WS 15/16 an der Philipps-Universität Marburg in die Tat umgesetzt wird.

Dieser Artikel ist die Fortsetzung seines Artikels „Digitalisierung – Problemlöser in der Hochschullehre„. Alle Blogbeiträge von Jürgen Handke finden Sie hier.

Flexibles Zeitmanagement in digitalisierten Lehrveranstaltungen

Flexibles Zeitmanagement: Ein Vorteil der Digitalisierung. Bild: Lauren Hammond, CC-BY 2.0 via flickr.comDass die Digitalisierung der Hochschullehre eine Reihe von Problemen der klassischen Hochschullehre löst (z.B. die Zielgruppenproblematik, das Transparenzproblem, das inhaltliche Quantitätsproblem, das Problem inhaltlicher Redundanzen, etc.), ist ein Aspekt meiner Argumentation in „Handbuch Hochschullehre Digital“ (2015a:179-182). Und dass darüber hinaus Online-Lehrformate und neue Lehrkonzepte, wie das des Inverted Classroom enorme Mehrwerte für die Hochschullehre sind, ist mittlerweile ebenfalls unbestritten.

Doch werden damit auch den Studierenden echte Vorteile geboten? Oder sind es nicht primär Vorteile, die sich auf die Lehrorganisation, sowie auf eine effizientere Inhaltsvermittlung und –erschließung beziehen und damit den Studierenden eher mehr Arbeit bescheren? Mit einem Inverted Classroom Szenario, fällt z.B. die Phase der Inhaltsvermittlung, die ja nun online stattfindet nie aus (inhaltliche Quantitätsgarantie) und die nachgewiesenermaßen wichtige Präsenzphase (Handke, 2015b) dient zur Vertiefung und anderer inhaltsnaher Aktivitäten. Die Arbeitslast für die Studierenden allerdings – so lässt sich leicht ermitteln – ist höher geworden, also eher ein Nachteil aus studentischer Sicht.

Zwar gibt es neben der heute verfügbaren Menge und Vielfalt an online bereitstehenden Lernmaterialien auch echte Vorteile für die Studierenden, z.B. Online-Angebote in besonderen Fällen (Krankheit, Auslandsaufenthalt, Stundenplankollision etc.) oder maßgeschneiderte Studienangebote für verschiedenen Studiengänge. Doch sind dies eher organisatorische Mehrwerte, die zwar für eine Verbesserung der Studienbedingungen sorgen, aber einen entscheidenden Aspekt des Lernens außer Acht lassen: die Möglichkeit, das eigene Lerntempo anzuwenden.

In eingeschränktem Maße ist dies zwar in Inverted Classroom Szenarien möglich, allerdings in der Regel nur bezogen auf eine einzelne Lerneinheit. Hier haben die Studierenden in der Regel innerhalb eines Wochentaktes die Möglichkeit, den digitalen Inhalt (Phase I des Inverted Classroom) nach eigenem Lerntempo und eigenem Lernpfad durchzuarbeiten. Die zeitliche Beschränkung, die durch den Semesterrhythmus und die wöchentliche Taktung von Lerneinheiten vorgegeben ist, kann bis heute nur in reinen Online-Kursen, wie z.B. in den Kursen unseres Masterstudiengangs „Web Development for Linguistics“ aufgehoben werden. Dort bieten wir mittlerweile innerhalb der Semestertaktung zeitlich völlig unabhängige Lernwege an, in denen Kursteilnehmer lediglich einen Termin im Auge haben müssen: die Abgabefrist für Prüfungsleistungen.

In unseren Massive Open Online Kursen (siehe Blogbeitrag: „Verbesserungsvorschläge für Online-Kurse – von MOOCs zu pMOOCs“) gehen wir ab September 2015 noch einen Schritt weiter: Kursteilnehmer können sich ab dann jederzeit anmelden, sie können ihre eigene Lernrhythmen wählen und den Kurs an einem selbstgewählten Zeitpunkt beenden. Da alle administrative Verfahren (Anmeldung, E-Assessment, Urkundenversand, Gebührenerhebung, etc.) voll automatisiert sind, entsteht kein zusätzlicher Aufwand für die Kursanbieter.

Diese zeitliche Flexibilität von Online-Lehrformaten lässt sich – in gewissem Rahmen – auch auf die curricular verankerte Lehre vor Ort übertragen, so erstmalig ein signifikanter Mehrwert auch für die Studierenden entsteht.

Zeitliche Flexibilität in On-Campus Kursen mit Präsenz

Ein solches zeitlich flexibles Kursformat (FLOCK = Flexibler On-Campus Kurs) wird erstmalig im Wintersemester 2015/16 an der Philipps-Universität Marburg im Fach Anglistik/Linguistik angeboten. Dabei können die Studierenden ihren Lernrhythmus im Rahmen der geltenden Prüfungsbestimmungen selbst definieren.

Im Kurs „History of English“, der aus 15 Lerneinheiten besteht und im „Inverted Classroom Mastery Model“ über den Virtual Linguistics Campus durchgeführt und mit einer E-Klausur als Prüfungsleistung abgeschlossen wird, wählen die Studierenden ihren Lernrhythmus selbst. Sie können für die zeitliche Abfolge der Lerneinheiten zwischen einem 3-Tages-Rhythmus, einem 5-Tages-Rhythmus oder einem wöchentlichen Rhythmus wählen und so ihr persönliches Kursende sowie einen von drei Terminen für die als E-Klausur durchgeführte Abschlussklausur selbst bestimmen. (Eine vollständige zeitliche Loslösung ist derzeit (noch) nicht möglich, da die Nutzungszeiträume für Computerpools, in denen die E-Klausuren stattfinden, begrenzt sind. Mehr als drei Termine pro Semester pro Kurs sind daher derzeit nicht realistisch).

Die gemäß dem Inverted Classroom Konzept primär dem Üben gewidmeten Präsenzphasen sind zweigeteilt: In der ersten Hälfte werden die mit dem Standard-Wochenrhythmus assoziierten Fragen bearbeitet; die zweite Hälfte ist der Beantwortung der Fragen, die in einem Forum gesammelt werden, gewidmet. Zusätzlich wird eine spezielle Sitzordnung eingerichtet, um den Studierenden und ihren Rhythmen besser gerecht zu werden und sie durch das Lehrpersonal (1 Dozent, 3 Tutoren) zielführend mit maßgeschneidertem Übungsmaterial zu bedienen.

Zusammenfassung

Dieses Angebotsformat, das sich aus der vollständigen Digitalisierung der Lehre ergibt, ermöglicht nicht nur ein zeitlich unabhängigeres Kurstempo, sondern es erlaubt den Studierenden ihre Abschlussprüfungen terminlich zu entzerren und mögliche Kollisionen mit anderen Lehrveranstaltungen zu vermeiden. Der Prüfungsdruckzu Semesterende kann somit verringert werden.

Zusammenfassend lassen sich folgende Voraussetzungen für die Umsetzung des FLOCK-Formats definieren:

  1. Das Konzept funktioniert nur mit vollständiger Digitalisierung aller Inhalte und aller Zusatzmaterialien, somit nur mit einer vollständig digitalisierten Phase I.
  2. Es muss ein separater Klausurraum an mehreren Terminen bereitstehen.
  3. Da der FLOCK Teil eines akkreditierten Studienganges ist, müssen entsprechende Gremienbeschlüsse herbeigeführt werden: studentische Fachschaft, Prüfungsamt, Institutsdirektorium, Fachbereichsrat.
  4. Der FLOCK muss in den offiziellen Kursbeschreibungen entsprechend kommuniziert werden (Vergabe von Prüfungsnummern für die flexiblen Prüfungsoptionen, Studienleistungen etc.)
  5. Die Lernplattform muss über die administrativen Möglichkeiten verfügen, die flexiblen Rhythmen der Kursteilnehmer zu verwalten.

Weiterführende Literatur und Links

Lernplattform: http://www.linguistics-online.com

Videokanal: http://www.youtube.com/linguisticsmarburg

Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre. Eine Anleitung. München. Oldenbourg Verlag.

Handke, Jürgen. 2015a. Handbuch Hochschullehre Digital. Marburg: Tectum Verlag.

Handke, Jürgen. 2015b. Digitalisierung der Hochschullehre – Welche Rolle spielt das Inverted Classroom Model dabei?, In Freisleben-Teutscher C. F. / Gruber W. / Haag J. / Weißenböck J. (Hrsg.) Neue Technologien – Kollaboration – Personalisierung, Tagungsband zum 3. Tag der Lehre.

 

Artikelbilder:

1. Lauren Hammond, CC-BY 2.0 via flickr.com

2. Thomas Hawk, CC-BY-NC 2.0 via flickr.com

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert