"Ohne dass es die Hochschulen selbst wahrgenommen haben, sind sie daten- und softwaregetriebene Einrichtungen geworden. Das heißt sie benutzen in vielen Bereichen komplexe Softwaresysteme, in denen im großen Maß Daten entstehen, ohne dass diese Daten (abgesehen von der Forschung) einer Auswertung unterzogen werden." Dr. Hubertus Neuhausen, Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln und Mitglied der ad-hoc AG „Hochschulbildung für das digitale Zeitalter im europäischen Kontext“, erläutert seine Sicht auf den Einfluss von allmählicher Digitalisierung auf Prozesse an Hochschulen.
Fasst man komplexe Organisationen wie Hochschulen ins Auge, gibt es eine Vielzahl von Perspektiven, wie sie sich sinnvoll und mit Gewinn betrachten lassen. Der Begriff Digitalisierung wird in diesem Beitrag vorwiegend in Zusammenhang von Prozessen gebraucht. Wenn von der Digitalisierung der Hochschulen gesprochen wird, bedeutet es, dass die wesentlichen Prozesse einer Hochschule wie Lehre und Forschung sowie der Betrieb einer umfangreichen Infrastruktur zunehmend mit Hilfe von Software, Daten und der erforderlichen Hardware durchgeführt werden. Dabei nimmt die Komplexität dieser Softwaresysteme weiter zu. Das klingt im ersten Moment sehr trivial, geradezu banal, aber diese Entwicklung hat sowohl in unser aller täglichen Leben als auch im Alltag von Hochschulen eine erhebliche verändernde Wirkung.
Diese Veränderungen nehmen wir in der Regel nicht wahr. Sie geschehen sukzessive und schleichen sich in die tägliche Gewohnheit ein. Der Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin bezeichnet diesen Prozess als die „iPhone-Infiltration“: Im Laufe der Jahre hat das iPhone schrittweise sein Servicespektrum ausgebaut. Wir haben diese Services Stück für Stück in unseren Alltag eingebaut, wie den Online-Kalender, die Mail-Funktion, die Textnachrichten, die Podcast- und Musik-App, etc., weil sie sehr bequem und nützlich sind. Viele Menschen fühlen sich mittlerweile ohne ihr Smartphone hilflos. Unser Verhalten hat sich im Laufe der Jahre erheblich verändert, ohne dass wir diesen Prozess als solchen wahrgenommen haben (Baldwin, 2019 S. 196-197). Die These dieses Beitrages ist, dass es – mutatis mutandis – in den Hochschulen genauso erfolgte.Bild: [https://unsplash.com/photos/ewGMqs2tmJI Nathan Dumlao]
In einer Hochschule gibt es in der Regel drei verschiedene „Geschäftsbereiche“, die unterschiedlichen „Logiken“ folgen:
Auf Grund einer bald 200 Jahre alten Gewöhnung nehmen wir diese drei Bereiche in einer Hochschule nicht mehr getrennt wahr (Christensen, 2012 Min. 69-72). Sie interagieren im hohen Maße miteinander und bedingen sich gegenseitig.
Jeder dieser drei Geschäftsbereiche digitalisiert sich auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise:
Durch diesen Prozess werden Hochschulen (auch) zu technischen Ökosystemen (Hechler & Pasternack, 2017). Trotz seines umstürzenden Charakters wird der Gesamtprozess der Digitalisierung als solcher von Hochschulen nur sehr selten in den Blick genommen und einer Reflektion unterzogen. Eine echte Diskussion findet nur zum Thema Digitale Lehre statt. Ohne dass es die Hochschulen selbst wahrgenommen haben, sind sie daten- und softwaregetriebene Einrichtungen geworden. Das heißt sie benutzen in vielen Bereichen komplexe Softwaresysteme, in denen im großen Maß Daten entstehen, ohne dass diese Daten (abgesehen von der Forschung) einer Auswertung unterzogen werden.
In der Regel sind diese Softwareinstrumente durch die Initiativen von Interessengruppen eingeführt worden, um einem konkreten Bedarf gerecht zu werden, oder es stehen Projektmittel zur Verfügung, die für einen konkreten Anlass genutzt werden können. Meist waren diese Initiativen nicht in eine übergreifende Strategie eingebettet. Dadurch entstand in vielen Hochschulen eine Softwarelandschaft, die aus „Silos“ besteht, die meist nur sehr oberflächlich miteinander verknüpft sind. Das heißt es gibt ein komplexes Ökosystem von Softwares, das aber wenig integriert ist (Expertenkommission Forschung und Innovation, 2019 S. 101-102; Hechler & Pasternack, 2017 S. 10-14).
Alle Hochschulen versuchen so zu werden, wie die wenigen international herausragenden Spitzenuniversitäten (Harvard und Stanford, Oxford und Cambridge, die ETH Zürich). Ohne es explizit zu machen, verhalten sich auch die Universitäten in Deutschland so, nicht zuletzt im Exzellenzwettbewerb (Heine, 2019; Wiarda, 2016). Das Idealbild ist die forschungsorientierte und drittmittelstarke Universität, die ihre Studierenden nah an der Forschung und möglichst auch selbst zu aktiven Wissenschaftler*innen ausbildet (Promotion, Habilitation). Die Forschungsuniversität ist für das Hochschulsystem der Leitstern, an dem sich das gesamte System in einem Wettbewerb zum Größeren und Besseren ausrichtet, bspw. wenn die Fachhochschulen sich um das Promotionsrecht bemühen (Christensen & Eyring, 2011 S. XIX-XXX und 3-30; Willets, 2017 S. 3-4, 36-39).
Bild: [https://unsplash.com/photos/e3Uy4k7ooYk Davide Cantelli] Betrachtet man Universität als spezifischen Typus von Organisation, dann weisen Universitäten eine sehr viel geringere Kohäsion bzw. einen viel geringen Grad an integrierter Struktur auf, als es von außen erscheint. Clark Kerr, Präsident der University of California von 1958-1967, bezeichnete Universitäten sehr treffend als „a series of faculty entrepreneurs held together by a common grievance over parking“ (zitiert nach Willets, 2017 S. 34). Universitäten kann man als eine Ansammlung von Wissenschafts- bzw. Forschungsentrepreneur*innen und –kleinunternehmen (Projekte, Lehrstühle und Institute) verstehen, die sich in dem großen Wettbewerb um Karrierechancen, finanzielle Mittel und Prestige, der Wissenschaft auch ist, optimal bewähren und erfolgreich sein wollen (Schimank, 2005 S. 148-149).
Daraus ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen, die auch für die unterschiedlichen Dynamiken und Geschwindigkeiten in der Digitalisierung von Hochschulen sehr relevant sind:
Die Hochschulleitungen weisen in Umfragen dem Thema Digitalisierung eine hohe Bedeutung zu, eine intensivere Beschäftigung mit diesen Fragen begann aber erst in den letzten Jahren (Expertenkommission Forschung und Innovation, 2019 S. 92-94; Gilch u. a., 2019 S. 41-42, 63-64, 98-100; Persicke & Friedrich, 2016 S. 38; Schmid, Lutz, Radomski, & Behrens, 2017 S. 23-30). Auch wenn in den Hochschulen in den letzten Jahren vermehrt Chief Information Officers eingesetzt wurden, fehlt den Hochschulleitungen häufig eine „digitale“ Perspektive, also ein Bewusstsein dafür, dass Digitalisierung in allen Bereichen von Hochschulen tiefgreifende Veränderungen erforderlich macht.
Etwas zugespitzt kann man sagen, dass die Digitalisierung von Universitäten nicht nur ein technisches Projekt, das heißt die Einführung von technischen Systemen ist. Sie macht auch einen erheblichen Kulturwandel und eine weitreichende Organisationsentwicklung im Gesamtsystem Hochschule erforderlich. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass es in Wirtschaftsunternehmen mindestens dreier „digital savvy board members“ bedarf, um eine nachhaltige und auf das gesamte Unternehmen gerichtete digitale Perspektive im Vorstand eines Unternehmens zu erzeugen (Weill, Apel, Woerner, & Banner, 2019). Es soll an dieser Stelle nicht geschmälert werden, was bisher auch von den Leitungen der Hochschulen im Bereich der Digitalisierung an vielen Standorten an Herausragendem geleistet wird. Fasst man aber ins Auge, wie sich in der Regel die Leitungen von Hochschulleitungen rekrutieren, dürfte ein „digital savvy“ Rektorat oder Präsidium eher die Ausnahme sein (Rienhoff, 2017 Min. 24.26-25.55; Roessler, 2019; Wiarda, 2019a, 2019b).Bild: [https://unsplash.com/photos/eMP4sYPJ9x0 Sharon McCutcheon]
Drei „Gesetze“ der digitalen Technologie haben bereits eine enorme verändernde Wirkung:
Diese „Gesetze“ sind weiterhin wirksam. Das bedeutet, dass die Digitalisierung unverändert mit einer hohen Geschwindigkeit voranschreiten und eine große Veränderungsdynamik auf unser aller tägliches Leben, auf die Arbeitswelt sowie die wirtschaftlichen Prozesse und nicht zuletzt auf die Hochschulen behalten wird (Baldwin, 2019 S. 89-102; Friedman, 2016 S. 19-117). Eine Konsequenz ist, dass zuerst in England, zunehmend aber auch in Deutschland die Diskussion darüber beginnt, inwieweit die Hochschulen ihre Absolvent*innen ausreichend auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereiten (bspw. Meyer-Guckel, Klier, Kirchherr & Winde, 2019; University UK, 2018).
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Willets, D. (2017). A University Education. Oxford University Press.
Ich persönlich mag den digitalen Wandel wie er bereits im gange ist. Freue mich was alles noch kommt.
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