Digitale Hochschullehre ohne Präsenzformate – ein Zustand, wie er ohne eine weltweite Pandemie nicht denkbar gewesen wäre. Offen ist, welche Veränderungen sich im Neuen Normal durchsetzen werden, sobald das Corona-Virus uns nicht mehr zwingt Abstand zu wahren. Das University:Future Festival (UFF) hat Anfang Oktober die mit Covid-19 einhergehende Disruption für die Hochschullehre zum Thema gemacht. Mit dem “New Normal” griff das HFD im Konferenztitel die Verschiebungen für die digitale Lehre auf. In diesem Beitrag stellt Katharina Mahrt die Antworten aus einer Umfrage vor, die wir während des UFF führten: Welche Erkenntnisse zum Neuen Normal in der Hochschulbildung hat unsere Community gewonnen?
Die Covid-19-Pandemie hat in allen Lebensbereichen disruptive Kräfte freigesetzt – unser Leben und der Alltag von vor einem Jahr scheint in weite Ferne gerückt. Am klarsten drücken sich diese Veränderungen in unseren eigenen vier Wänden aus: Waren diese vorher vor allem Orte, zu denen wir nach einem Arbeits-, Schul- oder Universitätstag zurückkehrten, ist das Zuhause (#StayAtHome) der Ort geworden an dem wir bleiben (Ilouz 2020). Der zuvor tägliche Wechsel zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum ist auf das Nötigste reduziert. Besonders die geschlossenen Bildungseinrichtungen im Zuge der Pandemie-Eindämmung führen uns vor Augen, wie sehr unsere Gemeinschaftsräume unser Sozialleben gewöhnlich zeitlich wie räumlich strukturieren. Glücklich konnte sich im Corona-Jahr 2020 unter anderem also schätzen, wer einen Garten hatte oder zumindest ein extra Arbeitszimmer (einmal kurz davon abgesehen, dass die systemrelevanten Berufe vor Augen führen, wer ungleich größeren Risiken ausgesetzt war und ist). Deutlich werden im Lockdown vor allem die sozialen und finanziellen Disparitäten – wer hat welche Arbeitsausstattung und finanziellen Ressourcen, um diese Gesundheitskrise, welche oftmals auch Gehaltseinbußen nach sich zieht – halbwegs gut zu überstehen?Das neue Normal: Stay at home. Bild: [https://unsplash.com/photos/el7ZoooLPhI United Nations COVID-19 Response]
Stellen Sie sich einen Moment lang vor, Covid-19 hätte uns vor 20 oder 30 Jahren getroffen, und damit ohne den heutigen Stand der Digitalisierung. Sicherlich wären auch im Jahr 2000 oder 1990 kreative und pragmatische Lösungen erdacht worden: Fernschule via Fernseher oder Brief. Arbeitsbesprechungen via Telefonkonferenz statt Jitsi und Zoom. Deutlich bei diesem kleinen Gedankenspiel wird, dass der Möglichkeitsraum durch digitale Tools und eine relative Verbreitung digitaler Endgeräte für kollaborative Zusammenarbeit, für interaktiven Austausch, für regelmäßige Check-ins oder Livestreams, die desaströsen Folgen der Pandemie abmildern konnten. Manche der jetzt erprobten und sich dabei bewährten Praktiken haben unser Leben, Arbeiten und das Lernen bereits grundlegend geändert. Stellt sich noch die Frage: Welche dieser Veränderungen werden sich langfristig durchsetzen?
Die Digitalisierung hat einen unheimlichen Schub erfahren – sei es bei den großen Ed-Tech-Unternehmen und dem wachsenden Marktanteil digitaler Geschäftsmodelle, in Bezug auf die sich ausweitende Möglichkeiten der Remote-Arbeit und natürlich im Bildungsbereich.
Auf dem University:Future Festival - LEARNING, SYSTEMS AND THE NEW NORMAL griff der Tagungstitel das Neue Normal auf – und wurde in den unterschiedlichen Sessions selbst auch adressiert, z.B. hier, hier oder hier.
Auf dem Festival haben wir Sie gefragt, welche Erkenntnisse Sie zum Neuen Normal in der Hochschulbildung gewonnen haben. Die Ergebnisse – 60 Freitextantworten – habe ich thematisch geclustert. Die Passagen sind also keinesweg repräsentativ – umso mehr würde ich mich über Ihre Perspektive(n) via Kommentarfunktion am Ende diesen Beitrags freuen!
“Nichts wird wie es war, nichts bleibt wie es ist, Veränderung hält wach [...]” “Es gibt kein New Normal. Die aktuelle Situation ist ein lang erwarteter Schritt in die richtig Richtung. Endlich ist das da, was ich seit mehr als zehn Jahren für mich bereits lebe.” “It is ok to experiment and fail but not ok to hope things will get better just because the latest technology is in town. Let’s unlearn, relearn and dare learning for life!”
“Nichts wird wie es war, nichts bleibt wie es ist, Veränderung hält wach [...]”
“Es gibt kein New Normal. Die aktuelle Situation ist ein lang erwarteter Schritt in die richtig Richtung. Endlich ist das da, was ich seit mehr als zehn Jahren für mich bereits lebe.”
“It is ok to experiment and fail but not ok to hope things will get better just because the latest technology is in town. Let’s unlearn, relearn and dare learning for life!”
Beginnen wir mit einer Binsenweisheit, die ebenso simpel wie wahr ist: Das neue Normal bedeutet die stetigen Veränderungen zu normalisieren. Oder anders ausgedrückt anzuerkennen: “Es gibt keine Normalität.” Für diejenigen, die sich schon länger mit dem Digital Turn in der Hochschullehre beschäftigen, setzt das Neue Normal Euphorie frei über die plötzlich möglichen Veränderungen, Innovationen und eine neue Geschwindigkeit. Ständige Veränderungen sind zugegebenermaßen auch eine Zumutung – was hilft, ist das passende Mindset, also eine sowohl individuelle als auch institutionelle konstruktive und kreative Haltung gegenüber Veränderungen – dazu gehört Ausprobieren, Testen und eine positive Fehlerkultur als state of the art.
“It's still humans that matter!” “Rolle des Lehrens und Lernens ständig auf den Prüfstein stellen. Studierenden mehr Raum für Rückmeldung und Reflexion geben.” “Lernbegleiter statt Lehrender”
“It's still humans that matter!”
“Rolle des Lehrens und Lernens ständig auf den Prüfstein stellen. Studierenden mehr Raum für Rückmeldung und Reflexion geben.”
“Lernbegleiter statt Lehrender”
Interessanterweise erfährt gerade das Soziale im Digitalen eine neue Bedeutung: Der Mensch steht im Mittelpunkt und bezogen auf die Hochschulen wird die Rolle der Studierenden zunehmend wichtiger. Bereits das Zwischenfazit des ersten Digitalsemesters wies in diese Richtung: Mit den Fragen nach digitaler Didaktik werden die Perspektiven der Lernenden wichtiger. Und in der Ausgestaltung digitaler Lehre sind die Einbindung der Kompetenzen der Studierenden und ein partizipativer Ansatz von Vorteil. Gleichzeitig machte Dr. Yasmin Djabarian im Abschlusspanel des U:FFs deutlich, dass Partizipation von Studierenden stärker denn je eingefordert wird: “Nothing about us without us.”
“Es wird hybrid, vernetzt, kooperativ.” “I think more people across the university landscape [...] realise that 'lecturing' is not a good use of our in-person time together. I hope we go forward with using more blended learning for dividing up tasks and getting the most out of our in-person time [...].” “Meiner Meinung nach haben wir noch viel zu tun! Selbst wenn „nur“ 10-20 % der Studierenden nicht mitgekommen sind im Online-Semester, dann sind das absolut doch sehr hohe Zahlen. Die Lehre, die wir irgendwie im vergangenen Semester gewuppt haben, kann und sollte bzw. muss m.E. an vielen (!) Stellen noch deutlich verbessert werden!”
“Es wird hybrid, vernetzt, kooperativ.”
“I think more people across the university landscape [...] realise that 'lecturing' is not a good use of our in-person time together. I hope we go forward with using more blended learning for dividing up tasks and getting the most out of our in-person time [...].”
“Meiner Meinung nach haben wir noch viel zu tun! Selbst wenn „nur“ 10-20 % der Studierenden nicht mitgekommen sind im Online-Semester, dann sind das absolut doch sehr hohe Zahlen. Die Lehre, die wir irgendwie im vergangenen Semester gewuppt haben, kann und sollte bzw. muss m.E. an vielen (!) Stellen noch deutlich verbessert werden!”
Bezogen auf die digitale Lehre zeichnet sich das Neue Normal durch neue Standards aus: Hybride Formate, Blended Learning und die Gleichwertigkeit und Ergänzung von Digitaler und Analoger Lehre. In diesem Zusammenhang wird auch ein kritischer Blick auf die Fallstricke des Old Normal gefordert. Die ortsunabhängige Lehre setzt sich laut den Antworten unserer Umfrage damit zufolge durch. Der nächste Schritt für ein besseres, neues Normal in der Lehre sei nun Interaktionen und Socialising im Digitalen zu optimieren – auch um dem als zu hoch wahrgenommenen Drop-out der Studierenden entgegenzuwirken.
“Bessere personelle Ausstattung nötig – Supportstrukturen wichtig” “Mit besonderer Aufmerksamkeit muss auf 'new digital divide' geschaut werden.”
“Bessere personelle Ausstattung nötig – Supportstrukturen wichtig”
“Mit besonderer Aufmerksamkeit muss auf 'new digital divide' geschaut werden.”
Politisch betrachtet sind die nächsten Schritte laut der UFF-Umfrage ebenso deutlich, denn die Debatte um Digitalisierung von Studium und Lehre eignet sich, um öffentlich über damit verbundene, grundsätzliche Herausforderungen zu sprechen: Gefordert werden mehr Personal, eine bessere technische Basisausstattung und eine diversitätssensible Lehre, welche Ungleichheitsverhältnisse, Antidiskriminierung, Barrierefreiheit, new digital divide und digitale Ethik integral und nicht als add-ons auffasst. Da hallen die Worte vom HRK-Präsidenten Peter-André Alt im Ohr wider, der in seiner Keynote: “Welche virtuelle Lehre brauchen wir?” festhält, dass die Digitalisierung kein Sparprogramm für die Lehre bedeutet.
“We're in this together.”
Wie verstetigen wir notwendige Veränderungen und richten uns im Neuen Normal ein? Das Zauberwort lautet Kollaboration: “Es geht nur miteinander: wir müssen alle gemeinsam aushandeln wie wir gemeinsam arbeiten und lernen wollen – das betrifft Lehrende, Studierende als Statusgruppen, ihre Beziehungen zueinander und die für New Learning nötige Agilität.”
We are in this together. Bild: [https://unsplash.com/photos/spb4-WrdTtE United Nations COVID-19 Response]
Das Neue Normal mag sich im Alltag vor allem durch die neue Bedeutung des Zuhauses als gleichzeitige Wohn-, Arbeits- und Bildungsstätte und das veränderte Verhältnis von öffentlichem und privaten Raum zeigen. In Bezug auf die Digitalisierung von Studium und Lehre lassen sich die Umfrageergebnisse folgendermaßen zusammenfassen: die Wertigkeit des Digitalen hat die Gleichstellung zu analogen Formaten erreicht. Im Neuen Normal wurden bisherige Widerstände gegen die Digitale Transformation aufgelöst. Hybride Lehre und Blended Learning gelten als neue Standards im Neuen Normal – im stetigen Veränderungsmodus bleibt indes offen, welche weiteren Verschiebungen vor uns liegen. Mit einem passenden Mindset können wir diesen beständigen Wandel annehmen und durch Kollaboration New Learning zusammen ausarbeiten.
Was das University:Future Festival vermocht hat – Digitale Konferenzen als vollwertige Alternative zu Präsenzmodellen zu etablieren und eine gut getimte fachliche und statusübergreifende Austauschmöglichkeit über das Neue Normal zum Start des Wintersemesters 2020/2021 – ist gleichzeitig Auftrag für die kommenden Monate: die Potentiale der Digitalisierung im Zustand des gesellschaftlichen Krisenmodus zu nutzen und weiter gemeinsam auszugestalten. Dem Neuen Normal zum Erfolg zu verhelfen ist im Angesicht der Pandemie eine bitterernste Angelegenheit und gemeinsamer Auftrag an uns Alle.
Eva Ilouz (2020)
Der Wunsch nach "neuer Normalität" ist verständlich, könnte aber in die Irre führen: Nach der Anpassungsleistung des Bildungssystems im März/April war die unausgesprochene Hoffnung, man würde neue Standards, neue Verfahren, neue Routinen finden. Esther Vilar hat das mal sehr schön beschrieben: Der Mensch, sobald er einen Hauch von Freiheit spürt, benutzt ebendiese genau dazu, sich in neue Abhängigkeiten zu begeben. Das Neue, Unbekannte verunsichert einfach zu sehr. Wer würde da zu "neuen" Sicherheiten nicht nein sagen? Sicherheit, Vorhersehbarkeit, Planbarkeit ist aber doch wieder das alte Programm der Industriegesellschaft.
"Every end is a new beginning" stand auf einem Mülleimer. Insofern ist die Frage: Was muss eigentlich im Bildungssystem mal enden(!), damit etwas Neues entstehen kann? Sind wir schon so weit, Dinge bewusst aufzugeben, sein zu lassen, endlich mal damit aufzuhören (die Art zu prüfen z.B., nur so als Gedanke)? Oder versuchen wir doch wieder nur, unsere alten Routinen in ein neues Medium zu übertragen? "Das Ende" jedoch hat keinen guten Ruf in unserer Kultur: Egal, ob Projekte oder Förderungen auslaufen, Kündigungen anstehen, Trennungen oder gar der Tod. Deine Partnerin hat Dich verlassen? Ich freue mich so sehr für Dich. Du wurdest gekündigt? Super, endlich mal Zeit für was Neues. Dein Vater ist gestorben? Wunderbar! Es gibt niemanden, der so etwas sagen würde. Es sei denn in einer Komödie mit Billy Crystal. Nein, wir freuen uns nicht über das Ende! Wir scheuen es. Wir tricksen, zögern hinaus. Wir wünschten, "es" würde immer so weitergehen. Der Schrecken des Paradieses, auch Esther Vilar. Dingend mal lesen, wie furchtbar langweilig die Ewigkeit ist, wie bedeutungslos alles wird, wenn man end-los Zeit dafür hat. Praktisch das komplette Gegenteil der protestantischen Arbeitsethik von Max Weber: Schaffe jetzt, die Belohnung kommt später! Pustekuchen.
Damit das Neue aber im Diesseits schon Raum bekommt und einen Platz finden kann, muss(!) also etwas Anderes enden. Wir brauchen das Ende! Wusste schon Joseph Schumpeter - und der ist bald 71 Jahre tot. Und insgeheim wissen wir es oder ahnen es leise: Falls eine Rückkehr zur Präsenzlehre jemals möglich sein wird, wir würden dort einen anderen Ort vorfinden. Die Welt dreht sich weiter. Das, wonach wir uns zurücksehnen, wird nicht mehr da sein. Das kennen jene, die nach Jahren an den Ort ihrer Kindheit oder des Studium zurückgekehrt sind: die Häuser sind noch da, aber es wirkt alles so klein. Und da wohnen plötzlich andere Menschen, die man nicht kennt und die alten Nachbarn und Freunde sind auch nicht mehr da. Warum dann dahin zurückkehren? Also, vorwärts Genossen! Fortschritt wird gemacht. Das Neue ist nur einen Mausklick entfernt. Wir müssen nur erst etwas Anderes beenden. Womit fangen wir an? Was beenden wir als Erstes?
Fertig.
Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Ich muss immer noch darüber Nachdenken und der Impuls hat hier wirklich einiges an Gedanken bei mir freigesetzt, was noch weiter gären muss.
Die Beispiele sind gut gewählt und provokant. Sich die Frage zu stellen, ob bspw. Frist nicht nur Frust, sondern auch Innovationspotential sein könnte? Sicherlich sind im New Normal die mannigfaltigen Aufgaben der Bildungseinrichtungen neben der Lehre, der Wissensproduktion und -distribution ein Knackpunkt (Ort der Sozialisierung, Arbeitsplatz, Begegnungsraum). Warum sonst hättest du die "Genossen" hier adressiert?
Darf man einfach mit einem Lyrik-Zitat antworten, lieber Peter England?
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
(Hermann Hesse)
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